Prüdemüde! Lest die Geschichten!

Was kommt dabei rum, wenn man einfach drauflos schreibt? Hier veröffentlichen wir alle Kurzgeschichten, die ihr uns geschickt habt. Sucht nach dem Rest unter #erregungoeffentlicherfreude (Facebook / Instagram) bzw. #erregungöffentlicherfreude (Facebook / Instagram) in den Sozialen Medien!


Jens Wiesner:

Irgendwann vor drei Wochen waren die ersten Plakate in der Fußgängerzone von Eschverdingen aufgetaucht. Nur ein Wort hatte darauf gestanden, eine Frage: Prüdemüde? Wie alle Einwohner der Kleinstadt hatten auch Lina, Marina und Eike gerätselt, was es damit auf sich hatte. Eike hatte auf eine neue App getippt, Marina auf die Guerilla-Kampagne eines Modeunternehmens und Lina, nun Lina hatte nur nervös gekichert.

Eine Woche später hatten sich neue Plakate hinzugesellt. Wieder dieses Wort: Prüdemüde? Und dazu ein Emoticon. Also, nicht irgendein Emoticon, sondern dieses gelbe Gesicht, das verschmitzt-wissend grinste, dieses Emoticon, das per se einen Hauch Verruchtheit ausstrahlte.

Wieder eine Woche später dann waren weitere Plakate gefolgt, Plakate, die zusätzlich die Adresse einer Website bewarben. „www.pruedemue.de“ Natürlich hatten die drei Freunde sofort ihre Smartphones gezuckt und nachgesehen. Eine weiße Seite war erschienen, darauf zu sehen ein Countdown, der die Stunden, Minuten und Sekunden bis zum Samstagabend, 23 Uhr, herunter zählte.

Um 20 Uhr hatten sich die drei bei Lina in der Wohnung getroffen, zum Vorglühen für das, was da kommen mochte. Die vierte Flasche Sekt war schon geleert, als der Countdown pünktlich um 23 Uhr auf Null schaltete und einen einzigen Satz offenbarte. „Prüdemüde? Kommt vorbei!“ Dazu eine Adresse, die, wie ein kurzer Blick auf Googlemaps verriet, mitten im alten Industriegebiet von Eschverdingen lag.

Komisch! In Eschverdingen war ja schon grundsätzlich eher wenig los, aber das alte Industriegebiet lag praktisch brach, nachdem das Hüttenwerk vor 18 Jahren dichtgemacht hatte. Und nun rotteten die alten Gebäude und Lagerhallen, deren Abriss sich finanziell einfach nicht lohnte, herrenlos vor sich hin.

An der Adresse angekommen, bot sich dem Trio ein seltsames Bild. Offenbar waren sie nicht die einzigen gewesen, die den Countdown mitverfolgt hatten und nun dem Geheimnis auf die Spur kommen wollten. Halb Eschverdingen war auf den Beinen, und hatte sich in eine Schlange eingereiht, die zu einer ominösen Tür führte, über der das Wort „prüdemüde“ in lila Neonfarben aufleuchtete wie eine alte Eisdielenfassadenwerbung aus den 1950er Jahren.

Am Eingang stand eine Gestalt, die man so in der Öffentlichkeit in Eschverdingen wohl noch nie gesehen hatte. Die Gestalt trug ein gefiedertes buntes Kostüm., ihr Gesicht war von der Maske eines Fuchses bedeckt, in ihre Haare hatte sie goldglänzendes Lametta geflochten. Ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelte, war nicht zu erkennen. Lina, Marina und Eike sahen aus der Ferne, wie die Gestalt jeweils nur einen Menschen durch die Tür gehen ließ. Niemals mehr als einen, niemals durfte eine Gruppe oder ein Paar gemeinsam eintreten.

„Meint ihr wirklich, das ist eine gute Idee?“ fragte Lina ihre Freunde verunsichert. „Wollen wir nicht lieber heim und weiter bei mir trinken und Musik hören?“ Eike schien in Versuchung, das Angebot anzunehmen, aber Marina protestierte vehement. Sie wollte unbedingt wissen, was in dem Gebäude vor sich ging.

Und dann waren sie auch schon an der Reihe. „Bitte tretet einzeln ein“, sagte die Paradiesvogelgestalt mit dem Fuchsgesicht – und ihre Stimme klang viel sanfter und freundlicher, als es die drei erwartet hatten. Zuerst verschwand Marina hinter der Tür, dann – nach fünf Minuten Wartezeit – war auch Eike hindurch getreten.

Linas Herz klopfte, als sich die schwere Tür wieder öffnete. „Bitte gehe jetzt durch“, flüsterte der Paradiesvogel Lina ins Ohr. „Drinnen ist es etwas dunkel, aber du musst dich nicht sorgen. Hör einfach auf die Stimme!“

Die Stimme?“ dachte Lina verwirrt, aber da war sie auch schon durch die Tür getreten, die sich sofort wieder hinter ihr geschlossen hatte. Lina stand im Dunkeln und rieb sich die Augen. „Hallo?“ rief sie, noch immer etwas ängstlich. „Eike, Marina, seid ihr hier irgendwo?“

„Hallo, ich bin Damian,“ antwortete eine körperlose, etwas blecherne männliche Stimme. War es die Stimme eines Computers? Oder sprach dort ein lebendiger Mensch durch einen Verzerrer? Lina konnte es nicht sagen. „Herzlich willkommen im Prüdemüde, dem Ort der vogelfreien Fantasie!“

„Äh, ok, hallo!“ Lina wusste nicht so recht, was sie mit dieser Aussage anzufangen hatte. Aber neben dem etwas mulmigen Gefühl in ihrer Brust zeigte auch der Sektschwipps langsam Wirkung. „Ganz schön dunkel bei euch, gibt’s hier irgendwo einen Lichtschalter?“

„Im Prüdemüde gibt es kein Licht“, antwortet die körperlose Stimme kryptisch. „Aber keine Sorge. Unser Reiseführerin wird dich an deinen Platz begleiten. Bitte setz dich dort hin und warte auf weitere Anweisungen.“

Und bevor Lina antworten konnte, spürte sie auch schon warme Finger ihre Hand umklammern und sanft, aber bestimmt, in eine Richtung ziehen. Lina ging mit, was sollte sie auch anders tun. Langsam, das musste sie sich eingestehen, war ihre Neugier geweckt.

Lina ging – geführt von der unsichtbaren Hand – einen langen Gang entlang, erst geradeaus, dann machte der Gang einen Knick, links, rechts, geradeaus, dann wieder links. Wie groß war dieser Ort? Und wo waren die anderen wohl gerade? Ließen sie sich auch von unsichtbaren Händen durch dieses Labyrinth führen?

Dann blieben sie plötzlich stehen und Lina hörte, wie knirschend eine Tür geöffnet wurde. „Wenn du dich wohl damit fühlst, ziehe bitte zuerst deine Schuhe und deine Socken aus, bevor du hindurchgehst“, sagte Linas Begleiterin leise und drückte Linas Hand kurz, wie man die Hand eines Kindes zur Unterstützung drückt, um ihm zu sagen: Es ist alles gut.

„Keine Sorge, in dem Raum ist es stockdunkel“, flüsterte , „Es gibt keine Kameras oder so, du bist komplett für dich alleine, wenn ich die Tür gleich hinter mir schließe.“

Lina glaubte ihr. Sie wusste selbst nicht ganz genau warum, aber sie fühlte einfach, dass man ihr hier nichts Böses wollte, ganz im Gegenteil. Also zog sie ihre Schuhe und Socken aus, stellte sie im Dunkeln an die Seite und trat durch die Tür.

Oh, Gott! Was war denn das!? Der Boden fühlte sich ja ganz weich an und kitzelte unter ihren nackten Fußsohlen. War das…? „Gras, genau, du läufst gerade auf Gras.“ Lina spürte, wie ihre unsichtbare Begleiterin lächelte. „Ich bringe dich jetzt noch zu deinem Platz, den Rest wird dir Damian gleich erklären.

Nach ein paar Schritten drückte Linas Begleiterin ihre Hand sanft nach unten. „Hier, bitte setz dich.“

„Einfach so ins Gras?“

„Ja.“

Seltsam. Da befand sie sich hier in einem Raum mitten in einem alten verlassenen Fabrikgebäude – und es roch überhaupt nicht muffig, sondern wie auf einer frisch gemähten Frühlingswiese. Lina liebte diesen Geruch und beschloss, sich komplett ins weiche Gras zu legen.

„Tschüss“, hörte sie die Stimme ihrer Begleiterin flüstern. „Und viel Spaß.“ Lina war sich ganz sicher, ein verschmitztes Lächeln in der Stimme zu hören. „Und fass mal neben dich, es gibt Sekt!“

Tatsächlich, nachdem Lina blind die Umgebung abgetastet hatte, hatte ihre Hand eine eisgekühlte Flasche gefunden. Offen. Sekt. Lina nahm einen langen Schluck.

Und dann war die Tür ins Schloss gefallen. Und Lina allein. Sie atmete einmal tief ein und aus.

„Hallo Lina! Ich bin’s wieder, David.“ Die blecherne Stimme aus dem Lautsprecher riss sie aus ihren Gedanken! „Bestimmt hast du dich gefragt, warum es das Prüdemüde eigentlich gibt?“

Na endlich kommen wir zum Kern des Ganzen, dachte Lina. Laut sagte sie aber nur: „Oh ja, erzähl, ich bin gespannt.“

Fortsetzung folgt


Jens Wiesner (Alternativgeschichte):

Die Herren kommen in Anzügen, ausschließlich in Anzügen, natürlich in Anzügen, schwarze Anzüge und weiße Hemden darunter, der Kragen gestärkt und die Krawatten bündig abschließend, so wie es sich gehört.

Die Damen erscheinen in Kleidern, in bodenlangen Kleidern, die Farben bunt, aber nicht zu bunt, elegant müssen die Kleider sein, und keines darf dem anderen gleichen, die Frisuren hochgesteckt oder onduliert, aber auf jeden Fall von professionellen Barbierhänden bearbeitet.

Die Münder aller Anwesender, der Damen und der Herren: mehr verkniffen als lächelnd, der Wichtigkeit des Anlasses angemessen. Die Gesichtszüge: unter Spannung, von Furchen durchzogen, betont nachdenklich, man will ja zeigen, dass man dazugehört.

KUNST ist kein Kinkerlitzchen, keine Belanglosigkeit, sondern etwas ernstes, bedeutungsschwangeres, schweres, etwas, dass in Majuskeln geschrieben gehört. Und wem die Ehre gebührt, anwesend sein zu dürfen, wenn neue KUNST zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert wird, der hat gefälligst die Mundwinkel zusammenzukneifen und höflich zu nicken, wenn der KÜNSTLER spricht, wenn seine Worte die Wichtigkeit seines Werkes in den Gesamtzusammenhang der menschlichen Zivilisation stellen.

Zumindest dann, wenn die Kunst nicht nieder, sondern hoch ist und in einem so hohen Hause wie diesem geschieht. Und wenn, auch das sei nicht verschwiegen, sowieso jeder, der heute hier eingeladen ist, unter dem Generalverdacht steht, doch nur nur das kostenfreie Buffet abgreifen zu wollen.

Daher Contenance, die Damen und Herren! Contenance in Haltung und Sprache! Contenance in der Wahl der Kleidung! Contenance im ganzen Habitus, die anderen schauen schon, rümpfen ihre Nase, bewerten.

Und dann der Fauxpas. Ein Besucher stolpert. Manchmal geschieht so etwas, einfach so: Waren es die zu engen Schuhe? Der Schweißtropfen, der ihm des zu engen Hemdkragens wegen in sein rechtes Auge getropft ist?

Nun stolpert er also – und nichts wäre geschehen, wenn er sich, nach Halt und Haltung greifend, nicht in dem Kleid, seiner Nachbarin vergriffen hätte, und diese nun ebenfalls stolpert und ebenfalls nach Halt und Haltung greifend den neben ihr stehenden Kellner zu Boden streckt, dessen Tablettinhalt – fünf Gintonic mit feinstem Gin und noch feinerem Tonic (auf den Tonic kommt es an, das wissen die Kenner) zunächst mehrere kunstvolle Pirouetten vollführt, um dann – äußerst fair verteilt – auf der KUNST, dem Künstler und der Galeristin zu landen.

Deren Münder: zu einem O geöffnet, aber zu spät, da fließt kein Tonic mehr hinterher, nicht den Gaumen hinunter, wie er es sollte, sondern nun die Anzüge und Kleider hinunter und der Schreck ist groß und der Schock noch größer! Die teure Seide, der samtene Stoff, ruiniert, ruiniert, und ruiniert auch das perfekte Aussehen, ruiniert die Fassade, abgebröckelt, ein weißes, gestärktes Hemd mit Fleck ist schlimmer, 1000 Mal schlimmer als ein alten fleckiges T-Shirt, denn ein Prozent weniger von 100 Prozent Perfektion ist nun einmal keine Perfektion mehr.

Und mit der Fassade bröckelt die Contenance, was sage ich, sie fällt in sich zusammen, sekundenschnell, als hätte jemand die alten Trompeten aus Jericho noch einmal zu Munde geführt, einen tiefen Atemzug genommen und geblasen, geblasen als gäbe es kein Morgen mehr.

Die gerade noch so beherrschten Gesichter nun: wütend, wütend über ihren eigenen Gesichtsverlust, und in der eigenen Wut doch auch irgendwie gelöst. Die vollen Gläser in ihren Händen: nicht mehr der Durstbefriedigung dienend, nein, sondern der Befriedigung eines anderen Gefühls: Rache, Rache an denjenigen, die ihre Fassade haben bröckeln lassen. Rache an jenen, deren Gesicht nun Schadenfreude ob ihres Malheurs widerspiegelt. Feuchte, nasse, spritzende Rache.

Die schweren, ernsten Worte nun: verstummt. Stattdessen: ein Jauchzen, Brüllen und Gejohle, als nun der edle Tropfen auch aus anderen Gläsern und Flasche den Weg an unkonventionelle Orte findet. Die KUNST triefnass tropfend, als die Galeristin ausrutscht und mit ihrem Hintern mittendrin landet, mitten in der KUNST ein lautes Krach, ein leises Knirsch und zerstört ist sie, die Kunst, die Klamotte und die Contenance.


© Texte: bei den Autoren
© Illustration: Jens Wiesner

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