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Meine Mutter hätte sich niemals selbst als „wild“ bezeichnet, ganz im Gegenteil. Sie war eine sanfte Frau, eher ruhig, mit einer tiefen inneren Sehnsucht danach, geliebt zu werden. Nachdem ich geboren war, blieb sie zu Hause, obwohl sie Apothekenhelferin gelernt hatte. Sie sollte ihren gelernten Beruf nie wieder ausüben. Aber am Rockzipfel meines Vaters hängen, um die Höhe des Haushaltsgeld feilschen, das war ihr dann doch zu blöd.
Ich habe sie noch gut in Erinnerung, wie sie strickend auf dem Sofa saß. Manchmal gab es Socken und Pullover für mich – etwas zu kratzig, ich mochte die gekauften lieber – oft aber strickte sie für ein Wollgeschäft in Osnabrück, das ihre Handarbeit im Laden für einen deutlich höheren Preis verkaufte, als sie für ihre Arbeit bekommen hatte.
Aber das Geld war ihres und niemand konnte es ihr nehmen. Oder vorschreiben, was sie damit tat. Ich profitierte mächtig von Mutterns Einkünften – auch weil ich geschickt wusste, mit ihren Gefühlen zu spielen. Als sie mich einmal zur Seite nahm und fragte, ob sie zwei Tage die Woche in eben jenem Wollgeschäft arbeiten gehen und mich bei meiner Uroma lassen dürfte (was für mich alles andere als schlimm war, gab es bei Uroma doch bei jedem Besuch ein neues Überraschungsei zu öffnen, Maumau zu spielen und Fix-und-Foxi-Comics vorgelesen zu bekommen) – nun ja, da reagierte ich, wie Kinder nun einmal reagieren: Ich sah meine Chance und handelte die teuerste Transformas-Action-Figur für mich heraus.
Doch das war nur die Spitze des Eisbergs: Neben Optimus Prime beglückte mich meine Mutter mit einer ganzen Reihe von Gameboy-Spielen, Plüschtieren und tauchte einmal sogar mit einer ganzen Kiste voller Asterix- und Isnogud-Comics in meinem Zimmer auf.
Aber manchmal dachte sie auch an sich. Als mein Vater zur Kur und damit aus dem Weg war, legte sie all ihr eigenes Geld auf den Tresen und erhielt eine Geschirrspülmaschine dafür. Ein Gerät, das mein Vater bis dato als sinnlos und unanschaffungswürdig betrachtet hatte. Aber meine Mutter wollte nicht mehr spülen für andere, hatte keine Lust und sagte dies meinem Vater auch so, als er ihren Kauf nach seiner Rückkehr mächtig kritisierte (obwohl doch die selbst dafür bezahlt hatte): „Dann spül doch halt selbst.“ Es wurde nie wieder darüber geredet.
Irgendwann machte das Wollgeschäft in Osnabrück dicht – und für einen Moment erwog meine Mutter wieder, in ihrem gelernten Beruf als Apothekenhelferin zu arbeiten. Aber die Berufswelt war nicht bereit für eine Apotherenhelferin Mitte 40. Apothekenhelferinnen hatten jung und knackig und adrett auszusehen in ihren Apothekenhelferinnenkitteln.
Als meine Mutter dann bei einer Bäckerei Anstellung fand, freute ich mich schon auf die vielen frischen warmen Brötchen, die uns von nun an tagtäglich ins Haus flattern sollten. (Ich konnte von frischen Brötchen damals nicht genug bekommen. Hab immer oben das Endstück abgebissen, mit dem Zeigefinger ein Loch in das weichere Innere gebohrt und es bis oben mit Ketchup ausgefüllt.)
Aber es sollte anders kommen: Am ersten Tag kehrte meine Mutter völlig fertig und entrüstet heim. Nicht die körperliche Arbeit hatte ihr so zugesetzt, sondern der raue Ton, mit dem die Bäckerei-Chefin ihre Untergebenen hin- und hergescheucht hatte. „Für kein Geld der Welt lasse ich mich so behandeln“ stellte meine Mutter an jenem Abend bestimmt fest, und ich war sehr stolz auf sie. Am nächsten Tag ging sie wieder in die Bäckerei, und zettelte, bevor der dritte Arbeitstag auch ihr letzter wurde, noch eine kleine Revolte gegen die fiese Chefin an.
Es war der einzige und kürzeste Arbeitskampf ihres Lebens. Vielleicht war es kein Arbeitskampf für die Geschichtsbücher, aber ein prägender für mich: Meine Mutter hatte mir nicht nur gezeigt, welches Feuer in ihr schlummern konnte, sondern auch, dass man immer die Wahl hat. Und dass man sich von niemandem seine Würde rauben lassen darf, egal wie viel Geld auch auf dem Spiel steht.
Nein, meine Mutter hätte sich niemals selbst als „wild“ bezeichnet. Und wahrscheinlich auch viele Menschen nicht, die sie kannten.
Aber sie war es.
Julia Käding:
Sie saß beinahe reglos da, verfolgte mit den Augen die Tropfen, die sich am Fenster sammelten und hinab rannen, sobald ihr eigenes Gewicht sie nach unten zog. Sie sah die Tropfen nah vor ihrem Gesicht, sah aber nicht, was weiter dahinter war, denn so weit schaute sie nicht. Es war schon viel Zeit vergangen, der Tag war grau und ein bisschen öde gewesen und so hatte sie Muße, um nach draußen, also auf die Regentropfen zu schauen. Lang und ausführlich. Sie versank in dieser Tätigkeit beinahe ganz, der Raum um sie spielte keine Rolle und der Hunger, den sie vorhin noch verspürt hatte, war verflogen, ohne, dass sie etwas gegessen hatte.
Dann ging sie über ein Feld, auf dem das Korn stand. Über sich hatte sie den blauen Himmel, in der Luft lag die drückende Schwere des Sommers mit seiner schonungslos sengenden Sonne. Dann kam die Waldgrenze und sie betrat den Wald, der ohne Übergang sofort dicht war und der das Licht der Sommersonne fast vollständig schluckte. Feuchtigkeit lag in der Luft und ein modrig süßer Geruch, der sich mit dem Duft von Tannenharz mischte.
Sie setzte die Schritte vorsichtiger, bekam sogar ein wenig Angst, denn sie kannte den Wald nicht und war es nicht gewohnt allein so weit zu gehen, geschweige denn in ein solch neues Gebiet vorzudringen, ganz ohne Begleitung und ohne eine führende Hand. Aber dann fühlte sie in ihrer Hosentasche den kleinen Kristall, den ihre Mutter ihr vor vielen Jahren gegeben hatte, damit er sie schützen solle. Und sie umschloss ihn mit der Hand und ging weiter über den weichen, bemoosten Boden, auf dem ihre Schritte geräuschlos waren, wenn sie nicht einen herabgefallenen Ast beim Auftreten zertrat.
Sie ging weiter, obgleich sie schnell schon nicht mehr wusste, wo sie war oder aus welcher Richtung sie gekommen war und wenn sie Angst bekam oder nicht entscheiden konnte, wohin sie sich wenden sollte, drückte sie den Kristall in ihrer Tasche und ließ sich von ihm Mut geben.
Nach einer Weile kam sie an ein Häuschen, das bewohnt aussah und auch wenn sie sich fürchtete, ging sie darauf zu und spähte durch ein Fenster hinein. Drinnen sah sie eine alterslose Frau, die etwas aus Ton etwas zu formen schien und sie drückte ihr Gesicht fester an die mit Schmutz und Staub bedeckte Scheibe, um besser sehen zu können, als die Frau ihren Kopf wandte und ihr fest in die Augen sah. Der Schreck durchfuhr ihren Körper und sie wollte davonrennen, doch zugleich fühlte sie sich von dem Gesicht der Frau so sehr angezogen, dass sie nicht imstande war, sich davon zu lösen.
»Komm ruhig herein«, tönte es von innen, und zögerlich folgte sie dieser Aufforderung. »Ich habe auf dich gewartet«, hörte sie die Frau zu ihrem Erstaunen sagen, doch sie konnte nichts entgegnen. »Ich arbeite schon seit Tagen mit dem Ton, aber ohne deine Hilfe werde ich nicht damit fertig werden können. Komm, nimm ihn in die Hand und mach weiter. Dies ist ohnehin deine und nicht meine Aufgabe.«
Die Frau übergab ihr das angewärmte Stück Ton, das noch keine erkennbare Form angenommen hatte und obwohl sie nicht wusste, was eigentlich vor sich ging, knetete sie und formte sie und zog und drückte an dem glitschigen Material herum, bis daraus eine Figur entstanden war, die ihr selbst sehr ähnlich sah.
Die Frau hatte ihr derweil zugesehen und dabei eine leise, wundersame Melodie vor sich hin gepfiffen. Dann rief sie laut und unvermittelt aus: »Du hast es geschafft! Du hast dich selbst gefunden.« Leiser fügte sie hinzu: »Geh nun zurück, erzähle niemandem von meiner Hütte im Wald aber bewahre die Erinnerung an mich für immer und denk immer daran, was du erschaffen kannst, wenn du furchtlos voranschreitest. Ich behalte diese Figur hier bei mir, aber zugleich wird sie dich begleiten wenn du dich immer an sie und an mich erinnerst und sie wird dir helfen, was auch immer du tust.«
Die Frau schob sie ohne die Tonfigur zur Tür hinaus und sie lief wieder durch den Wald; lange und im Zwiegespräch mit einer neuen Stimme in ihrem Kopf, die ihr den Weg wies, bis sie das Feld erreichte, über dem noch immer die Sonne stand.
Und dann saß sie wieder am Fenster, an welchem die Regentropfen Spuren bildeten und miteinander verschmolzen, wenn sie sich trafen.
© Texte: bei den Autoren
© Illustration: Jens Wiesner
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