Die Kondolenzmilch ist alle: Lest unsere Geschichten!

Im Februar 2020 haben wir uns im Rotbart getroffen und fleißig drauflos geschrieben. Der Titel: „Die Kondolenzmilch ist alle“. Was dabei herumkam, könnt ihr hier lesen.

Johanna:

Ich sitze auf meinem Stuhl, die Hände unter dem Schoß, irgendwie tun die weh- also die Hände. Würde ich sie unter meinem Gesäß herziehen, meinem Po heben und die Fingerspitzen herausziehen, wären sie ganz weiß. Ich muss da sicherlich schon 45 Minuten drauf sitzen. Mal sehen, was die nächsten 45 Minuten passiert. Ich lasse sie erstmal da, wo sie sind. 

Was macht die Alte da eigentlich? Die, die mir gegenübersitzt? Die sieht irgendwie ekelig aus. Dick und fett. Würde sie ihre Hände unter den Hintern schieben, wären die nach 2 Minuten tot. Die hat doch bestimmt einen Ehering auf, der sich so richtig schön in die Fettschicht der Finger schiebt. Die alte Fettschachtel muss doch mindestens 70 sein und zwischen ihren Fettschichten hat sich Schmodda angesammelt, bestimmt. Ihr Name ist sicherlich Erna oder Hiltrud. So Namen, die man seit mindestens 100 Jahren nicht mehr nimmt. Hiltrud sieht so aus, als hätte sie nie Spaß im Leben gehabt. 

Ahh- meine Finger schmerzen, weiter. Egal, ich schaffe die nächsten 45 Minuten auch noch. Wer weiß, wie lange das hier noch geht. Boah, jetzt zieht die alte Speckmutti auch noch ihre Nase hoch, ist die in ihrem Leben wohl schon länger als 24 Uhr wachgewesen? Spaß Hiltrud, Spaß! Den kennste wohl nicht, wa?

100 Hiltruds, 300 Hermänner, meine abgestorbenen Finger unter meinem Arsch. Alle und alles in einem Raum. Dazu noch dieser Geruch, es riecht süßlich und moderig zugleich. Ich bin in der ersten Reihe, es geht weiter… Der Mann mit dem langen Gewand ist dran, ich horche auf. Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen Männer lange Gewänder anzuziehen. Schwul. Der faselt irgendwas von Gott und so, aber mal ehrlich, was hat dieser Gott eigentlich mit uns zutun. Den hat doch niemand gesehen. Das wäre ja so, als würde ich von Feen erzählen. Da glaubt doch auch keiner dran, aber an Gott schon? Wie ist das passiert? 

Die alte Speckschachtel glaubt bestimmt an den Lattenjup, deswegen geht die auch nie später als 24 Uhr ins Bett, die glaubt an den, ich schwör. Pater Gotthild labert inzwischen was vom Glauben, von der ewigen Ruhe, was von Erlösung, vom Paradies. Der süßliche Geruch im Raum zieht in meine Nase, ich schaue mich nach den Hiltruds und Hermännern um. So sieht es also aus, wenn man stirbt, wenn ein Körper leblos wird. 100 Menschen kommen zusammen, manche aus Pflichtbewusstsein, andere aus wirklicher Trauer. Ein Priester, der den Menschen, der da vorne liegt nicht einmal kannte. Hat wirklich das Recht die letzten Worte über diesen Menschen zu sprechen. 

Da liegt mein Opa. Kannte ich ihn? Ich weiß es nicht. Er war halt ein alter Mann, der schon seit meiner Geburt da war. Grimmig und gezeichnet vom Krieg. Vermisse ich ihn? Ich weiß es nicht. Könnte ich nette und ernsthafte Worte über ihn sprechen? Ich weiß es nicht. Mein Opa war mir kein Vorbild. In der Todesanzeige steht geschrieben: „ Alfred, 92, er ist erlöst, er war ein fleißiger Arbeiter.“ Das ist alles. Alfred könnte man auch gegen Manni oder Richard austauschen. Was macht das für einen Unterschied?

Immerhin innovativ. Die Trauerfeier ist in der alten Milchfabrik. Der Sarg wird rausgetragen. Die Speckschachtel zieht hinterher. Ich ziehe meine Hände hervor. Kreide bleich, wie vermutet. 

Alfred, das war’s. Die Milch ist aus, schreibe ich in das Kondolenzbuch. 

Jens Wiesner:

Im Beerdigungsinstitut „Immerfrieden“ herrschte helle Aufruhr. „Unmöglich!“ rief Immerfrieden-Chef Ingo Immerfrieden. „Ein Skandal!“ empörte sich die Catering-Verantwortliche Lilian Leckerbeis. Und selbst Familienhund Knud knurrte böse aus seiner Ecke. So etwas hatte es in der gesamten, immerhin schon 78 Jahre andauernden Erfolgsgeschichte des Traditionsunternehmens noch nicht gegeben! Zugegeben – das eine oder andere Malheur war den Immerfriedens natürlich schon unterlaufen. Ein vertauschter Leichnam hier, eine Feuerbestattung anstelle einer Erdbestattung da – so etwas blieb im Beerdigungsbusiness nicht aus. Aber bislang jede sich noch jedes Problem lösen lassen. Selbst die große Platenkuchenkrise von 1984 hatte dem guten Ruf des Unternehmens nicht schaden können.

Aber dies hier war etwas anderes! Mit einem Problem dieser Größenordnung hatte es Familie Immerfrieden noch nie zu tun gehabt. Begonnen hatte alles am Morgen der großen Doppelbeerdigung der Koch-Zwillinge, einem Geschwisterpaar aus dem Nachbarort Himmelpforten, das stets alles im Leben gemeinsam verrichtet hatte. Und nun eben auch den allerletzten Teil. Wer nun aber an einen geplanten Doppelselbstmord denkt, der liegt falsch. Karola und Klara Koch hatten ihr Leben als Kandidatinnen der beliebten Realityshow und Dauerwerbesendung „Tupper extrem – heiße Stunts mit Plastikware“ ausgehaucht. Ihre Wette, sich mithilfe eines selbstgebauten Floßes aus zusammengebundenen Tupperware-Behältern den Rheinfall in Schaffhausen hinunterzustürzen, war zwar aussichtsreich gestartet, hatte im Finish allerdings einen entscheidenden Dämpfer erhalten.

Und so lagen Karola und Klara nun hier, gemeinsam aufgebahrt in der überlebensgroßen Replik einer doppelstöckigen Tupper-Brotdose aus dem Winterkatalog 1988/89. Das ganze Dorf würde nach der Beerdigung zum großen Leichenschmaus vorbeischauen – und nun das!

Kreidebleich Lilian Leckerbeis aus dem Lager gerannt, ihr Mund zu einem schockierten O geformt. „Die Kondolenzmilch!“ hatte sie gerufen, „Die Kondolenzmilch ist alle!“ Es war eingetreten, womit nun wirklich niemand in der Familie gerechnet hatte. Denn diese so genannte Kondolenzmilch war zum Markenzeichen des Familienbetriebs geworden, nachdem Ingos Vater Ingolf, der vor kurzem verstorbene Familienpatriarch, auf die glorreiche Idee gekommen war, die kleinen Plastikschälchen Kaffeesahne, die beim Leichenschmaus gemeinhin zum Filterkaffee gereicht wurden und die sich besonders bei Damen und Herren gehobeneren Alters großer Beliebtheit erfreuten, mit pfiffigen Sprüchlein und Lebensweisheiten am Rande der Pietät zu versehen. Zwar waren die Immerfried’schen Kaffeesahnepäckchen in der lokalen Presse schnell als „Beerdigungsglückskekse“ verschrien, erfreuten sich bei der Klientel aber schnell einer großen Beliebtheit, hoben die augenzwinkernden Texte doch die an einem solchen Tag eher gedrückte Stimmung der anwesenden Gäste auf ein erträgliches Mittelmaß.

„Sterbe glücklich, sterbe froh, wie der Mops im Haferstroh!“
„Nun liegt er in der Erden, wir dürfen endlich erben.“
„Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen“

Ingo, der als Familienpatriarch auch äußerst preisbewusst gewesen war, hatte Ende der 1980er eine Großbestellung Kondensmilch mit Sonderaufdruck in Auftrag gegeben und dabei eine Kaufwut an den Tag gelegt, die es durchaus mit einem gewissen Herrn Lohse aufnehmen konnte. Ja, es musste extra ein großer Lagerraum im Beerdigungsinstitut freigeräumt werden, um die Massen als Milchplastikschälchen unterbringen zu können. Und so hatte in den vergangenen 40 Jahren niemand mehr einen Gedanken daran verschwendet, dass irgendwann einmal dieser Nachschub zuneige gehen könnte. Die Kondolenzmilch war immer da gewesen und es würde sie auch immer geben. Bis heute morgen.

Nun war die Sorge entsprechend groß. Wie würde das Dorf, nein: wie würde die Welt darauf reagieren, wenn zum ersten Mal in 40 Jahren keine kecken Sprüche den Leichenschmaus im Hause Immerfrieden auflockern würden?

Schon versuchte Ingo Immerfrieden Kontakt mit jener Molkerei aufzunehmen, die damals die Kaffeesahne bedruckt und geliefert hatte, doch der Anschluss unter der vierstelligen Telefonnummer ließ sich nicht mehr herstellen. „Eine Katastrophe!“ rief Ingo Immerfrieden und riss in einer Geste hilfloser Panik beide Hände in die Höhe.

Doch in diesem Moment der Hoffnungslosigkeit, als Ingo schon alle Hoffnung fahren gelassen hatte, schwang plötzlich die doppelflügige Haustür auf und ein helles Licht durchflutete den Raum. „VERZAGET NICHT!“ sprach eine Stimme – und eine Gestalt trat aus dem Gegenlicht. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Ingo tatsächlich an eine Kondolenzmilch-Intervention von allerhöchster Stelle, aber dann trat doch nur Irina, die jüngste Tochter der Immerfriedens nach vorne. „Nee, jetzt ehrlich, kommt mal wieder klar.“

„Du hast dich noch nie um unserer Familientraditionen geschert“, erboste sich Vater Ingo fuchsteufelswild. „Die Kondolenzmilch ist der Grundpfeiler unseres Geschäfts. Unser Alleinstellungsmerkmal. Ohne sie wären wir nur…“

„Das mag ja sein, Vatilein“, flötete Irina fröhlich. „Aaaaaaber… Ich habe mir gestern noch einmal auf Youtube die Tupperware-Sendung reingezogen. Und bei der Vorstellung der Kandidaten wurde extra darauf hingewiesen, dass nicht nur die Koch-Zwillinge, sondern ihre gesamte Familie seit Generationen an Laktoseintolerenz leidet.“

„Na und?“ rief Ingo. „Ich weiß nicht, was das jetzt mit unserer Krise…“

„Vatilein, eure ach-so-tolle Kondolenzmilch hätte bei euren Leichenschmaus-Gästen zu einer mittelschweren Klokatastrophe geführt. Und das nicht nur wegen der beschissenen Sprüche…“

Julias Nachbar:

Ich stehe in der Küche und… und weiß einfach nicht. Ich bin müde, einfach so müde. Ist es wirklich zu viel verlangt? Diese eine kleine Sache? Wenn es regnet, dann schüttet es, oder wie geht dieser Scheißspruch? 

Warum eigentlich die Packung noch in der Küche stehen lassen, wenn sie ohnehin schon leer ist? Toller Mitbewohner, wirklich ganz große Klasse, Thomas. Als ob es nicht schon genug wäre, dass er ständig jeden Scheiß in der Wohnung rumliegen lässt… warum gerade heute, wenn alles, was ich wollte, alles, was ich brauchte, nur dieser eine kleine Schluck Kondensmilch ist… nur ein Schluck, dann wäre alles gut.

Dann wäre auch der Kackabend von gestern vergessen, der Streit mit Maren, mein Kater wäre weniger schlimm und überhaupt wäre mein Leben einfach ein kleines bisschen weniger scheiße. Ungeduscht, mit wirren Haaren und in meinem Lieblingspyjama sinke ich auf dem Küchenboden zusammen. Mein Blick wandert über die Küchenregale.  Teller, Gläser, Müsli, Nudeln… alles ist da, nur keine Kondensmilch! 

Ich kann welche kaufen gehen; der nächste Laden ist direkt um die Ecke! Gerade als ich aufspringe, um mich anzuziehen, wird mir klar: Es ist Sonntag, du Dummchen! Das Laden ist zu. Dort gibt es zwar Kondensmilch, ganz nahe, aber für mich unerreichbar. Wie eigentlich alles im Leben, ne? 

Verdammte Scheiße, ich bin so müde. Ich ertrage den Anblick der Spaghettinudeln im Einmachglas vor mir nicht mehr und schaue durch das Küchenfenster auf das Nachbarhaus. Die Fassade ist grau, grau und hässlich. Wie mein Leben. Fucking Berlin. Wie war das nochmal mit Karma, man bekommt, was man verdient, nicht? Geschieht mir wohl recht…

Überrascht stelle ich fest, dass es draußen regnet. Vermutlich schon die ganze Zeit, warum fällt mir das erst jetzt auf? Ist doch alles scheiße! Ich beobachte den Regen, sehe, wie er wie ein kleiner Fluss über die Dachschräge nach unten Richtung Hinterhofboden läuft. Irgendetwas sammelt sich in meinen Augen. Es ist auch klar und nass, aber irgendwas sagt mir, dass es kein Regen ist, der meine Wangen runter läuft.

Jetzt ist es eh egal, sage ich mir, und versinke tiefer und tiefer im Küchenboden. Ich will doch nur eine Umarmung! Ein freundliches Gesicht, ein Ende des Hämmerns in meinem Kopf. Oder einen verfickten Schluck Kondensmilch! 

In diesem Moment kommt Thomas durch die Tür. „Was ist denn mit dir los?“ fragt er. Ich suche noch die Antwort, und meine ganze aufgestaute Wut, all der Frust, ist kurz davor auszubrechen, als er mich anlächelt und sagt: „Die Kondensmilch ist alle, ich hab beim Nachbar neue geholt.“


© Foto: Jens Wiesner

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